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Freitag, 12. Oktober 2012

Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930


(Bremerhaven/Berlin) (DAH-Pressemeldung) – Millionen Mädchen und junge Frauen aus Europa verlassen in den Jahren um 1900 ihre Heimat: Sie reisen aus Hessen nach Kalifornien, aus Russland nach New York oder aus Galizien nach Buenos Aires, um dort ihr Glück und eine neue Existenz zu suchen. Für Zehntausende von ihnen führt der Weg in die Prostitution. Mit der gemeinsamen Ausstellung „Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930“ widmen sich die Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und das Deutsche Auswanderhaus Bremerhaven einem bislang ungeschriebenen und weitgehend unbekannten Kapitel der europäischen Massenauswanderung. Während die Ausstellung in Berlin den Blick auf die Herkunftsorte der jungen Frauen richtet, legt Bremerhaven den Schwerpunkt auf die Emigration und Zielländer. 

„Der Gelbe Schein“, ein umgangssprachlicher Ausdruck für den Prostituierten-Ausweis im vorrevolutionären Russland, ist ein Symbol für die Zwangslage vieler junger Frauen in jener Zeit: Ein Umzug vom Shtetl in Städte wie Moskau oder St. Petersburg war Jüdinnen in Russland offiziell nur erlaubt, wenn sie sich als Prostituierte registrieren ließen. Auch in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich wurde die Suche nach einer neuen Existenzmöglichkeit für junge Mädchen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten oft zur riskanten Gratwanderung. Denn junge Frauen aus Europa waren im Sexgewerbe in der Neuen Welt begehrt: Sie glichen den akuten Männerüberschuss aus. Viele Freier bevorzugten zudem Prostituierte aus ihren Herkunftsländern. 

Sophia Chamys’ Leidensweg beginnt im Alter von 13 Jahren: In Warschau erlaubt ihr Vater einem fremden Herrn, Sophia als Hausmädchen zu engagieren. Isaak Boorosky zwingt sie kurz darauf zur Prostitution und schickt sie nach Buenos Aires – ihr Weg führte über Bremerhaven. Im Alter von 15 Jahren kehrt sie hochschwanger nach Europa zurück. Meta Stecher ist 15 Jahre alt, als sie im April 1913 erschöpft und verwahrlost in einem Kinematographentheater in New York aufgefunden wird. Als achtes Kind eines Gastwirts kommt Meta Stecher 1897 in Scharmbeck zur Welt. Nachdem ihre Mutter verstirbt, heiratet ihr Vater ein zweites Mal und zieht nach Geestemünde bei Bremerhaven, in die Leher Chaussee 94. Mehrere Schwestern wandern zu Beginn des 20. 
Jahrhunderts nach Amerika aus. Meta folgt ihnen 1911. Ihr Vater Fritz Stecher hat die Reise erlaubt und bezahlt. Ganz alleine fährt sie in einer Kabine zweiter Klasse mit der „SS Prinz Friedrich Wilhelm“ nach New York. Sie tritt eine Stelle als Dienstmädchen an, wird entlassen, muss auf der Straße schlafen – und gerät in die Gewalt von Männern, die sie einsperren, vergewaltigen und zur Prostitution zwingen. Paula Waismann wird 1925 in Danzig gemeinsam mit einem Mann namens Schulem Babki festgenommen: Er hatte der 19-Jährigen versprochen, sie zu heiraten und nach Paris zu bringen. Aber in ihrem gefälschten Pass findet sich ein Visum nach Mexiko. Dort sollte sie wohl an ein Bordell verkauft werden. 

So wie diesen drei jungen Frauen ergeht es Zehntausenden, die zwischen 1860 und 1930 auch via Bremerhaven oder Hamburg in die Neue Welt fahren. Mit Gewalt verschleppt, mit märchenhaften Versprechen verführt oder aus freien Stücken? Die Diskussion darüber wurde schon damals vehement geführt.  

Im Zentrum beider Ausstellungen, in Berlin wie in Bremerhaven gleichermaßen, stehen die Schicksale von „allein reisenden Mädchen“ – und die Geschichten der Männer und Frauen, die mit ihnen Geld verdienten. Ihr Leben hat oft nur wenige Spuren hinterlassen: ein Foto, ein Polizeiprotokoll, eine Zeitungsnotiz, einen Brief. In jahrelangen Recherchen hat das Ausstellungsteam um die Kuratorin Irene Stratenwerth in Archiven in Berlin, Bremen und 
Hamburg, in Genf, Wien, Czernowitz, Odessa und Buenos Aires nach solchen Lebenszeugnissen gesucht. Die berührende Schau – gestaltet und eingerichtet von Studio Andreas Heller, Architects und Designers in Hamburg – macht die Hoffnungen, Sehnsüchte und Illusionen derjenigen spürbar, die zum Aufbruch in die Neue Welt nur eine einzige Möglichkeit hatten: ihren eigenen Körper zu verkaufen. Mit Bildern, Texten, Landkarten, Briefen und Audiodokumenten – unter anderem gesprochen von dem Schauspieler Peter Lohmeyer – gelingt eine Annäherung an die Lebensschicksale der „allein auswandernden Mädchen“. Auch unternahm der Filmemacher 
Ciro Cappellari eine Spurensuche in Buenos Aires, Rosario, Lemberg und Odessa, aus der eine Videoinstallation entstanden ist. 

Die Ausstellung läuft zeitgleich in Bremerhaven und Berlin, um die räumliche und zeitliche Dimension des Themas Mädchenhandel zu verdeutlichen. Jeder Ausstellungsort schafft eine eigene Atmosphäre: In Berlin steht sie auf der ehemaligen Frauenempore der Synagoge an einem ehemals religiösen Ort. In Bremerhaven, dem einst größten Auswandererhafen des europäischen Festlandes, spürt man das Meer und den Aufbruch und ahnt, dass Hoffnungen sich nicht immer erfüllten. 

Das Projekt wurde durch die Kulturstiftung des Bundes gefördert. Im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven wurde die Ausstellung am 26. August 2012 eröffnet. Bereits seit dem 19. August 2012 wird die Schau im Centrum Judaicum Berlin im Rahmen und mit Unterstützung der Jüdischen Kulturtage gezeigt. Der Begleitband „Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930“ ist in der 
„edition DAH“, der Schriftenreihe des Deutschen Auswandererhauses, erschienen und kostet 14,80 Euro (ISBN 978-3-00-0388019). 

Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven: 27.08.2012 – 28.02.2013 
Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum: 19.08.2012 – 30.12.2012 

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