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Sonntag, 18. November 2018

Theater tatsächlich innovativ

Elischa Kaminer
(Oldenburg) flausen+, young artist in residence ist ein von Theater Wrede+ in Oldenburg initiiertes Forschungsprogramm für darstellende Künstler. In den vergangenen Jahren haben bereits ca. 40 Gruppen eine solche Residenz ausfüllen können. Nach der Forschungsphase kam die Produktionsphase, und nun ist eine Performence der Gruppe Chicks* unter dem Titel „Love me harder“ im Theater in der Klävemannstr. 16 zu sehen. Chicks* ist ein freies Performancekollektiv, eine feministische Gruppe, die Bilder von Geschlecht und Identität in der Popkultur, Medien, Politik, persönlichem Umfeld und Geschichte als Spiegel gesellschaftlicher Machtstrukturen begreift und performativ umarbeitet. 

Diese etwas sperrige Selbstbeschreibung steht einer beeindruckenden Performace gegenüber. Auf der Bühne eine ergreifende Intimität herzustellen ist eines der schwierigsten Aufgaben die sich ein Schauspieler stellen muss. Wirkt der Spieler privat, dann ist der Ausdruck banal. Ist er zu distanziert, dann kommt es einer Aufforderung zur Gleichgültigkeit nahe. Doch in Love me harder hat die Gruppe um den Performer Elischa Kaminer eine Form gefunden die sowohl extrem privat ist und mit einem starken Ausdruck verbunden, dem man sich in fesselnder Ambivalenz nicht entziehen möchte. Kaminer blickt die einzelnen Zuschauer an. Er nimmt sich Zeit zu schauen und gesehen zu werden. Auf sehr respektvolle Art bindet er einzelne Zuschauer in verschiedene Handlungen ein. Es ist die bislang gelungenste Publikumsbeteiligung die ich in über 30 Jahren Theatererfahrung gesehen habe. Respekt!

Man sieht ein Bildermosaik verflochten aus Begehren und diversen sexuellen Verlangen. Es geht darum auszuloten wie eine neue Form von männlicher Erotik, die nicht als Gegensatz zu Feminität sein muss, dennoch sensibel ist. Die Konzepte von patriarchaler Männlichkeit wird brüchig, und es stellt sich die Frage: durch welche Umstände und Erfahrungen gestaltet sich mein Begehren? Um diesen Fragen nachzugehen präsentiert Kaminer einen bunten Kaleidoskop kleinster Handlungen, versprüht ein süssliches  Parfum, arrangiert Puppen, stellt sich wie ein griechischer Held in Pose, badet eine Puppe, und überrascht immer wieder mit noch anderen, zündenden, verschmitzten, überzogenen, kritischen und witzigen Ideen. Eine nicht enden wollende Folge kleiner Einzelstücke die Teil für Teil etwas erahnen lassen. Die Stimmung im Publikum lässt vermuten das jeder einzelne Zuschauer mit seiner eigenen Geschichte beschäftigt ist. Kaminer stimmt sein Publikum nachdenklich auf eine wertfreie Art. Er gibt jedem einzelnen Raum zu sein, und dann geht er weiter für ein weiteres Erlebnis.

Man könnte sagen: darmaturgisch betrachtet fehlte der Spannungsbogen. Ja, aber hier wird auch keine Geschichte erzählt, sondern Anregungen gezeigt um sich mit sexuellen Realitäten zu beschäftigen. Unsere Erzählformen sind heute anders seit dem fast jeder Mensch mit einem Smart Phone ausgestattet ist. Wir haben kaum noch die Geduld uns auf prosaische Geschichten einzulassen. Und genau darum ist es so sehr zu begrüßen, dass sich Gruppen wie Chicks* und das Theater Wrede+ um die Kultivierung neuer Kommunikationsformen kümmern.

Weitere Termine sind noch am 29. und 30. 11. jeweils um 20:00

Karten unter 0441-9572022 oder: www.theaterwrede.de