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Sonntag, 12. April 2020

Neugier und Leidenschaft

(Wanna) Das erste Buch von Margaret Atwood hatte ich vor vielen Jahren in der Hand. Ich saß an der Theke meiner Stammkneipe und schielte einer jungen Frau neben mir neugierig über die Schulter. Es waren kurze Erzählungen. Sie schob mir das Buch rüber und forderte mich auf zu lesen. Ich war begeistert. Atwood fesselte mich auf eine persönliche Ebene an die Erzählung. Nun, es ist immer eine persönliche Beziehung zwischen Buch und Leser. Doch Atwood macht daraus keinen Hehl, sondern fordert diese Verbindung und Beteiligung ein. An der Theke hatte ich nur eine Erzählung lesen können weil die junge Frau weiter wollte. Doch von nun an hatte ich an Atwood Feuer gefangen.

Vor Kurzem schlenderte ich durch Blaubeuren zum Blautopf und kam an einer Buchhandlung vorbei und sah auf einem Grabbeltisch die verramschte Ausgabe vom Berlin Verlag: Margaret Atwood - Aus Neugier und Leidenschaft gesammelte Essays. Nur 5 Euro für ein dickes Werk mit 478 Seiten, das vormals 28 Euro kostete. Es erschien 2017 als Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8270-0666-0. Also in dem Jahr als ihr der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, also nur zweieinhalb Jahre zuvor. Dieser schnelle merkantile Wertverfall geht nicht kongruent mit dem inhaltlichen. Es ist eine sehr gediegene und weit recherchierte literarische Sicht auf unsere gesellschaftlichen Themen die seit langem mit hoher Temperatur weltweit vor sich hin brennen. Es ist ein Buch jenseits von Fakten, Meinungen und Diskussionen, es dient der persönlichen Beschäftigung. Es ist nützlich um seine eigene Haltung zu formen. Das Buch rettet gewiss nicht die Welt oder löst auch nur eines der großen Probleme darauf, aber es hilf den einzelnen evtl. im überfluteten Informationsstrudel unserer Zeit zur persönlichen Klärung.

Die Texte sind in drei Teile gegliedert: Erster Teil 1970 - 1989, zweiter Teil 1990 - 1999 und dritter Teil 2000 - 2005. Es sind Vorträge an Universitäten und zu anderen Gelegenheiten, Buchbesprechungen, Nachrufe, Vorworte Artikel etc. . Es geht um Frauen, um Männer und um Frauen und Männer, es geht um die Umwelt, um vergangene Zeiten die noch einen Wert für uns heute haben und um Zeiten in der nahen Zukunft. Ich habe jeden einzelnen Essay mit Begeisterung verschlungen. Und dabei ging es mir nicht darum ob ich mit dem was Atwood schreibt übereinstimme, sondern es war für mich jeweils ein grandioser Moment der Selbstreflexion. Kein Buch das man zum Einschlafen ließt oder an einem Wochenende wie einen Krimi verschlingt. Und dennoch hat es die knappe Form der in sich geschlossenen Betrachtung und die dynamische Spannung die man nicht aus der Hand legen will.