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Sonntag, 26. April 2015

„Endlich Kokain“ - Sprungbrett ins Leben

Matthieu Svetchine © by Jörg Landsberg
(Bremen) Der Roman von Joachim Lottmann „Endlich Kokain“ ist ein Weckruf an die Lethargie. Gestern war die Premiere der Roman-Dramatisierung im ausverkauften Kleinen Haus am Theater Bremen. Die gestaute Energie in uns allen, der Frust mit dem wir uns arrangiert haben hinterlässt ein riesiges Potential für Lebensfreude. Doch wie befreien wir uns aus dem Koma? Der Roman und die Inszenierung handeln von der mächtigen Anstrengung die nötig ist, um uns wieder ins leben zu stürzen. Und für den Protagonisten bedeutet es alles zu geben, auch wenn es sein Leben kosten wird.

Zwischen Szene und Publikum hängt eine hauchdünne durchsichtige Spiegelfolie. Das Publikum betrachtet sich beim Einlass selbst. Und wie eine Metapher die zum Charakter von Kokain Süchtigen passt, springt plötzlich in der ersten Reihe eine Person auf und ruft durchs Theater - winkt zu den hinteren Reihen: Sie hat Verwandte entdeckt, begrüßt sie rufend, den Ort, den Anstand, die Peinlichkeit, die Öffentlichkeit missachtend. - Was macht der Stoff aus uns? Er öffnet die Schranken, die eine gebotene Zurückhaltung für ein funktionierendes Zusammenleben erfordert. Man fühlt sich befreit und berufen, sich direkt und persönlich auszuweiten, mitzuteilen, zu leben - ungezwungen und natürlich. Allerdings führt die Sucht auch zu der überheblichen Einschätzung das Recht zu haben alles zu tun, was man im jeweiligen Moment will. Es führt zu Arroganz, zu übertriebenem Egoismus, und man verliert den Kontakt zu den Referenzen an die reale Umwelt, von der man sich immer weniger verstanden fühlt. Doch wie groß fühlt sich die notwendige Bewegung an um aus geronnene Zustände herauszutreten?

Die Roman-Vorlage von Joachim Lottmann „Endlich Kokain“ stellt ein Bild in den Mittelpunkt die diese Wirkungsweisen aufgreift und in vielen Facetten spiegelt. Ein übergewichtiger Mann über 50 hockt in seiner aufgestauten Lebensenergie teilnahmslos am Ende der Sackgasse seines Lebens. Dann entdeckt er Kokain als Mittel Körpergewicht zu verlieren, aktiv zu werden. Der Bezug der Droge lässt ihn in eine Welt eintreten die durch den Konsum und den oben beschrieben Wirkungsweisen gekennzeichnet ist. So wie sich im Antiquariat verstaubte Leseratten verpuppen, man im Aldi Leute findet die Aldi sind, im Tabakwaren Geschäft Raucher trifft, so ist die Welt der Kokser anfänglich zwar neu, doch schon sehr bald der Ort an dem man Gleiche unter Gleichen findet. Joachim Lottmann trumpft hier mit einer unendlichen Liste prominenter Namen auf, die (vermutlich) alle mit Kokain in Verbindung gebracht werden können. Koks ist teuer, verändert die Psyche und Physis des Konsumenten nur schleichend, wodurch die Droge auch im engen Bekanntenkreis leicht geheim gehalten werden kann. Optimal für Leute die im Rampenlicht stehen.

Matthieu Svetchine, Gabriele Möller-Lukasz, Pola Lia Schulten © by Jörg Landsberg
Ein raffiniertes Regiekonzept stellte Pedro Martins Beja auf. In einer vielschichtigen Art zeigt er das Erleben der Droge aus der Sicht des Protagonisten Stephan Braum; beeindruckend charakterlich dargestellt von Matthieu Svetchine. Svetchine gibt eine konkrete Innenschau vom phlegmatisch Resignierten, dem erwachenden Mittfünfziger, dem berauschten Zweiten-Frühling-Geniesser, dem im Kokain-Kosmos etablierten Realitätsfälscher und zuletzt dem im Rausch scheiternden Suchtopfer. Die Inszenierung hat einen Schwerpunkt auf den Blickwinkel. Hier wird eine Brücke geschlagen von den Darstellungsmöglichkeiten des Films zum Theater. Im Film kann man in nahezu realistischem Erleben Zeitgeschwindigkeiten beeinflussen, und durch den POV (Point of View) unmittelbare Reaktionen erzeugen/bewerten. Was Theater vom Film aber trennt, ist die Schnitttechnik und den unverzüglichen Wechsel von Bild zu Bild. Pedro Martins Beja schafft hier eine Verbindung, in dem er wie z.B. vergleichbar mit einem Splitscreen Bilder nebeneinander zeigt. So sieht man wie Braum auf der Bühne in die Kamera spricht, und zusätzlich ein Close up in einer großen Projektion am Bühnenrand. Bühnentotale und delikate Reaktionen stehen ergänzend nebeneinander. Diese Form nutzt er auch für Dialoge, insbesondere im reaktion shot, der auf der Bühne in seiner Unmittelbarkeit/Gleichzeitigkeit unmöglich ist.

Drei in weißem Latex gekleidete Frauen, einem griechischem Chor gleich, führen durch die Geschichte. Sie sind stellvertretend für unterschiedliche Personen mit denen Braum zu tun hat. Sie tauchen wie aus dem Nichts auf, sprechen von der Bühne, aus dem Off oder in eine der vielen Kameras. Sie sind die Geister in der verkoksten Welt Braums, sie sind der innere Dialog Braums, sie sind konkret irreal und manifestieren die Verschiebung von Braums Erlebniswelten. Die Bühne ist im Erleben verortet. Gegenlicht zeigt manchmal nur Silhouetten, die Spiegelfolie an der Rampe ist wie ein Schleier in eine andere Welt, die Musik dröhnt schon mal martialisch wie im Kino, und mit den Mikroports kommt die Sprache wie aus einer fernen Galaxy mit Übertragungsschwierigkeiten wegen psychologisch bedingter Wurmlöcher. 

Eine sehr intelligent gestaltete Inszenierung die dem Spannungsfeld von Kokainrausch und normaler Tristesse beeindruckend erzählerischen Raum gibt. Lediglich der etwas prosaische Prolog und das ausufernde Schlussbild hinterlassen einen Eindruck von Länge. Mutiges Theater für ein modernes aufgewecktes Publikum. Thema und Inszenierung lassen eigentlich keinen Zweifel: „Endlich Kokain“ wird auch in ein/zwei Jahren im Kino zu sehen sein.


Weitere Termine für Endlich Kokain nach dem Roman von Joachim Lottmann sind am 30. April, 11. und 28. Mai jeweils um 20:00

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