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Sonntag, 3. Juni 2012

Rituale oder Ritalin


(München) Mit dem Buch „Hyperaktiv“ von Christoph Türcke liegt nicht nur eine Streitschrift zum Thema ADHS vor, es fordert auch dazu auf eine Bilanz unserer Evolution zu ziehen. Im Untertitel „Kritik der Aufmerksamkeits-Defizit-Kultur“ schwingt auch die Aufforderung zur Kritik der Vernunft mit, der reinen Praktischen. Das Buch ist ein Anstoss zu einer weitreichenden Gesellschaftsveränderung, in einer Zeit in der ‚es einfacher scheint ein Atom zu spalten als eine Meinung zu ändern‘, wie Albert Einstein es wohl formuliert hätte.
Das schmale Büchlein hat zwischen den Deckeln eine gehörige Portion Zündstoff, denn es behauptete nicht die ADHS erkrankten Kinder tragen die Ursache in sich sondern die Erwachsenen. Dies ist keine Schuldzuweisung, sondern vielmehr ein Zustandsbericht. Türcke greift sehr weit zurück um seine Gedanken darzustellen. Für Philosophie Unbedarfte ist es ein leichter Einstieg und für Philosophie Interessierte ein schneller Überblick darüber, wie der Autor seine Ideen entwickelte. Er beginnt am Anfang der Aufmerksamkeit. In kurzen anschaulichen Kapiteln führt er die Leser dahin wie wir Menschen begannen soziale Wesen zu werden. Der Ursprung der Kommunikation, unser Umgang mit Angst, warum und wie wir traumatische Erfahrungen wiederholen, wie wir lernen, was wir als heilig gelten lassen und wie und was das mit der radikalen Veränderung seit der Erfindung von Film zu tun hat. Mit Film??? Ja, genau! Keine Angst, es wird nicht gegen die Filmindustrie zu Felde gezogen. Türcke zieht gegen niemanden zu Felde, viel mehr regt er zu bewussterem Handeln an.
„Zur Menschwerdung gehört die Ausbildung von Sitten und Gebräuchen. Deren Elementarformen aber sind sakrale Riten, und die wiederum haben eine gemeinsame Wurzel: das Opferritual.“ Mit diesen Riten beginnen sich Menschen über die Dinge mitzuteilen die sie nicht verstehen. Es beginnt eine Kommunikation die mit keiner Logik erfasst werden kann. Man muss aufmerksam seinen Mitmenschen folgen um zu verstehen. Folgen kann man nur wenn man etwas gezeigt bekommt. Damit legt Türcke die elementare Verbindung zwischen Kinder und Eltern fest. Eltern leben vor und Kinder wiederholen. So wie in Urzeiten Rituale durch Wiederholung zu starkem Glauben und Vertrauen führte, so lernen die Kinder von ihren Eltern. Bevor es Sprache gab haben wir Menschen uns visuell verständigt. Die visuelle Verständigung ist gewöhnlicher und unlogischer als Sprache in unserer Kommunikation verankert. Bilder müssen in unserem Verständnis durch Wiederholungen einsickern bevor sie vertrauensvoll angenommen werden.  Durch die Natur der Filmsprache wird dieses Einsickern verhindert. Die Bilderfolgen schreiten enorm schnell voran und es bleibt keine Zeit sie zu verstehen oder nachzuvollziehen. Wir sind nur noch angespannt zu verfolgen wie es weiter geht ohne zu verstehen was da vor sich geht. Dieser Stress immer aktuell informiert, immer erreichbar zu sein macht uns zu isolierten Wesen. Multitasking verhindert dass wir uns auf irgend etwas einlassen. Und das überträgt sich in der Erziehung auf die Kinder. Kinder kommen unbeholfener zur Welt als Tiere. Sie müssen alles lernen was die Menschheit in ihrer gesamten Evolution verinnerlicht hat. Doch sie werden mit einer Gesellschaft konfrontiert die darauf ausgerichtet ist zu funktionieren, schnell und unvermittelt. Wo ist da die Zeit der Wiederholung, das zu Lernende zu verinnerlichen?
Im zweiten Teil des Buches beschreibt Christoph Türcke Rituale wie sie heute sinnvoll angewendet und ausgeführt werden können. Die Evolution befindet sich immerhin im 3. Jahrtausend nach Chr. Geburt. Und das bedeutet auch dass ein evoluzierter Umgang mit Ritualen eingeschlagen werden kann. Dabei spricht Türcke über den Wert von gemeinsamen Handlungen, z.B. Rituale die Respekt erzeugen ohne blind zu gehorchen. Es geht darum sich mitzuteilen in einer Gemeinschaft die bereit ist hinzuschauen und Aufmerksamkeit zu spenden. Damit ist dann auch das größte Problem angesprochen. Die die lehren müssen sich und ihre Pädagogik überdenken und radikal ändern. Es ist  nicht von Vorteil mit immer neuen Lehrmethoden aufzuwarten, vielmehr müssen die Methoden dauerhaft und beständig sein und Raum geben für eine Aufmerksamkeitskultur. 
Christoph Türcke ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Im Verlag C.H.Beck liegen von ihm bereits die folgenden Titel vor: Erregte Gesellschaft - Philosophie der Sensation; Vom Kainszeichen zum genetischen Code - Kritische Theorie der Schrift; Philosophie des Traums. 
Das Buch ist mit einem übersichtlichem Literaturverzeichnis ausgestattet. Wer „Hyperaktiv“ gelesen hat könnte außerdem interessiert an Mirsea Eliade - Das Heilige und das Profane sein.
Christoph Türcke „Hyperaktive“ Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur, Originalausgabe 2012 Broschur 123 Seiten für 9,95€ bei C.H. Beck München ISBN 978-3-406-63044-6

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